Physische und ökonomische Grausamkeiten: 50 Jahre Militärputsch in Chile.
Rezensionsgedanken zu Günther Wessels Biographie „Salvador Allende“
von Paula C. Georges
Chiles Geschichte um den 11. Sept. 1973 ist auch Teil der Geschichte des deutschen Rechtsextremismus. Und die darauf folgende autokratische Zerschlagung des Sozialstaates scheint ein neoliberales Menetekel für alle Staaten, deren Demokratie gefährdet ist.
Am 11. Sept. 1973 putschte das chilenische Militär mit aktiver Unterstützung des US-amerikanischen Geheimdienstes CIA gegen den demokratisch gewählten Präsidenten Salvador Allende. Jahrzehnte danach sind noch zehntausende chilenischer Familien traumatisiert von der systematisch einsetzenden Folter. Der Westen, auch die bundesrepublikanische Justiz und Außenpolitik stärkten Putschgeneral Pinochet. Teile der CDU/CSU waren Mitwisser erschütternder Menschenrechtsverletzungen. In der sogenannten „Colonia Dignidad“, einer Sekte des deutschen Paul Schäfers, gab es ein Folterzentrum der Junta. Schäfer war ein Freund des bayerischen Ministerpräsidenten F.J. Strauß, Politiker der CDU/CSU besuchten die Kolonie. Die Sekte war eine pseudoreligiöse Verbrechergemeinschaft, die über ein halbes Jahrhundert lang Kinder entführte, sexuell missbrauchte und Familien versklavte. Darüberhinaus bestand „Colonia Dignidad“ aus einem international verflochtenen Konsortium diverser Firmen, Wirtschafts- und Geheimdienstinteressen. Bis heute ist die Mitverantwortung deutscher Behörden nicht abschließend historisch aufgearbeitet.
Günther Wessel zeichnet ein differenziertes, undogmatisches Portrait des sozialistischen Präsidenten Salvador Allende, der als Spitzenkandidat der „Unidad Popular“, einem linken Parteienbündnis, am 24. Oktober 1970 zum Präsidenten Chiles gewählt worden war.
Salvador Allende, ursprünglich Arzt, entstammte einer Politikerfamilie und hatte bis dahin schon dreißigjährige Erfahrung auf verschiedenen Ministerposten. Schon während seines Medizinstudiums trat Salvador Allende als Studentenführer hervor und wurde verhaftet. Am Grab seines Vaters soll er versprochen haben, sich dem „sozialen Kampf“ zu widmen. Mit 27 Jahren wurde er aus politischen Gründen als junger, idealistischer Arzt nach Nordchile verbannt in ein kleines Fischerdorf. Dort gründete er eine illegale Ortsgruppe der Sozialistischen Partei, hielt Reden über die „ricos“ (Reichen“) und die „ritos“ (Angehörige der Unterschicht). 1939 trat er sein erstes Ministeramt für Gesundheit an. Zweimal wurde er zum Senator in Südchile gewählt – neben Senator Pablo Neruda. 1947 gründete er die Sozialistische Volkspartei. Der Familienvater dreier Töchter, immer elegant, auch außereheliche Liebesgeschichten, wird als nahbarer, aufgeschlossener Volksredner geschildert, der selbst von seinen politischen Gegner akzeptiert wurde. Schon als junger Mann war er überzeugt davon, irgendwann Präsident zu werden, aber es brauchte seit 1963 zunächst drei vergebliche Kandidaturversuche.
Allendes sozialistische Politik war eher sozialdemokratisch orientiert: Sympathien für Kuba und die Sowjet-Union, aber kritisch, er bestand auf Unabhängigkeit. Den Einmarsch sowjetischer Truppen in der CSSR 1968 verurteilte er.
Zügig wurden Sozialreformen umgesetzt. Armutsbekämpfung, Erhöhung der Mindestlöhne, Verbesserung des Gesundheits- und Bildungswesen, Senkung des Schulgeldes. Die Kindersterblichkeit sank signifikant. Eine gemäßigte Landreform versuchte großfeudale Verhältnisse zu transformieren. Kunst, Musik, Literatur, Theater wurden gefördert.
Viele bekannte Künstler und Künstlerinnen unterstützten Allende: der Literaturnobelpreisträger Pablo Neruda, die Musikerin Violeta Parra („Gracias á la vida“), der Komponist Victor Jara, die Gruppe Inti-Ilimani. Sergio Ortega schrieb das Wahlkampflied „Venceremos“ („wir werden siegen“). Von ihm stammt auch der wieder in den Sozialprotesten von 2019 vielfach skandierte Slogan: „El pueblo unido jamás será vencido“ („das geeinte Volk wird niemals besiegt werden“).
Allende wollte die Hauptressourcen der chilenische Wirtschaft aus den kolonialen Fesseln des Auslandskapitals, vor allem aus dem der USA, lösen: 1971 wurden die Kupferbergwerke verstaatlicht – mit den Stimmen der chilenischen Christdemokraten. Von den radikalen Linken kritisiert, von rechts angefeindet, suchte Allende Mehrheiten zwischen allen Stühlen und wollte auch die Opposition in die Regierungsarbeit einbinden. Zum Schluss ernannte er sogar General Pinochet zum Oberbefehlshaber, weil er sich nicht vorstellen konnte, dass dieser gegen die Verfassung verstoßen würde.
Die USA und die internationalen Wirtschaftsorganisationen reagierten mit Boykott.
In drei wechselhaften Jahren regierte Allende ein gespaltenes Land: für 1/3 war er „der Kandidat des Volkes“, 1/3 waren gleichgültig, 1/3 waren auf Seiten der wirtschaftlich Mächtigen.
Mitte 1971 verschlechterte sich die ökonomische Lage. Die Inflation stieg, die Versorgung der Bevölkerung verschlechterte sich. Der Schriftsteller und Diplomat Antonio Skármeta spricht vom „Terrorismus der Rechten“, die eine Angstkampagne anführten und durch Streiks, Sabotage u.a. putschähnliche Zustände herbeiführten und das Land destabilisierten. Die Rechte drohte unverhohlen mit einem „Djakarta“ (in Indonesien wurden nach einem Militärputsch hunderttausende Kommunisten ermordet). Allende klagte in seiner letzten Rede vor der UNO im Dezember 1972 über „internationale Sabotage und Erpressung Chiles“, seine finanzielle Strangulation. Es drohe ein „imperialistische Intervention“.
Dennoch siegte im März 1973 die „Unidad Popular“ bei den Kongresswahlen. Es gab also auf parlamentarischem Weg keine Möglichkeit, die Regierung Allende zu stürzen.
Am 4. September 1973 feierten Hundertausende den Präsidenten an seinem Jahrestag des Wahlsieges: „Allende, Allende, el pueblo te defiende“ (Allende, Allende, das Volk verteidigt dich).
Allende schlug eine Volksabstimmung vor.
Am 11. September 1973 fuhren die Panzer auf, die Moneda (der Präsidentenpalast) wurde bombardiert, Allende weigert sich, den Präsidentenpalast zu verlassen und erschießt sich. Was dann geschah mit der Opposition, ist zu entsetzlich für jede Beschreibung. Die Familie Allende geht ins Exil. Isabel Allende, die weltbekannte Schriftstellerin, Patenkind Salvadors, wird nie mehr zurückkehren. Die deutsche Wirtschaft – so z.B. die chilenische Niederlassung von Hoechst – triumphierte.
Ökonomisch verwandelte die Militärdiktatur Chile in ein neoliberales Labor, in dem sämtliche Grundversorgung – wie Bildung, Renten, Transportwesen, sogar die Wasserversorgung – privatisiert wurde zugunsten ausländischer Investoren und dies sogar in der Verfassung festgeschrieben. Die Löhne wurden gekürzt, Staatsausgaben rigoros gekürzt. Das Militär sicherte sich für die nächsten Jahrzehnte 10% der Kupfererlöse und eine Amnesie für Menschenrechtsverletzungen zwischen 1973-78. Makroökonomisch war das Modell erfolgreich. Das BIP stieg. Eine superreiche neue Herrenklasse entstand und extreme Ungleichheit. Massenarmut und Umweltzerstörung breiteten sich aus. Mittelstand, Akademikerfamilien gehörten zu den neoliberalen Verlierern. Ein Kind zu versorgen wird zum Überlebensrisiko.
Der Übergang zur Demokratie verlief nach 17 Jahren Militärdiktatur schleppend.
1988 wurde Pinochet in England als Verbrecher gegen die Menschlichkeit für 17 Monate verhaftet, aber dann doch nach Chile ausgeliefert. Sein Verfahren wurde dort wegen Demenz eingestellt.
Die „autoritäre“ Verfassung von 1980 blieb bestehen und ist bis heute Kern der gesellschaftspolitischen Auseinandersetzungen.
2019 kam es monatelang zu landesweiten Sozialprotesten. Es gab Straßenkonzerte mit Liedern von Victor Jara, Tausende sangen und musizierten mit. Auf You Tube sind die Mitschnitte dieser Flashmobs zu sehen. Die jungen Menschen trugen Salvador Allende-T-Shirts.
Doch das pueblo ist desunido. Unter der neuen linken Regierung von Gabriel Boric stimmte eine Mehrheit gegen einen alternativen, emanzipatorischen Verfassungsentwurf. Und die neuen Wahlen für eine verfassungsgebende Versammlung wurden von Rechten gewonnen.
Mächtige machen Meinung durch Medienmacht und Einfluss.
Immerhin, heute ist Salvador Allendes Enkelin Maria Tambutti Allende Vorsitzende der Fundación Salvador Allende und seine Enkelin Maya Fernández Allende Verteidigungsministerin.
Wessel, Günther. Salvador Allende: Eine chilenische Geschichte. Berlin: Ch. Links Verlag, 2023, 254 S. , 25,-€
Veröffentlicht in der Literaturzeitschrift „literaturkritik.de“:
https://literaturkritik.de/public/mails/buchbriefe.php?bid=55411&ans=4833#4833