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Die Wohnung der Worte

Ich bin entkommen.
Ein gelber Phoenix hat mich hier in diese Wohnung gesetzt.
Könnte ich sagen.
Alles scheint viel zu groß für mich, ein bisschen kühl. Die Fenster. Helle Wendeltreppe. Eine rotleuchtende Küche. Mehrere Terrassen.
Bronzefarbene Pilgerskulpturen gegenüber. Pfiffige Waden, pilgern sie.
Ein tausendjähriger Eichenstumpf.
Graublaue Lüfte mit schweren Sonnenstrahlen.
Saudade.
Wenn ich traurig werde, will ich Musik.
Manchmal verwandeln Freundinnen mich in fernes Gelächter.
Immer habe ich in den Wiesenkuhlen gelegen und war. Bis man mich rauszwang in Busse, Straßen, Gänge.
Dann lache ich manchmal alles aus, auch mich. Das bleibt, wenn es gelingt, Abstand zu halten.
Ich bin entkommen.
Noch kann ich kaum atmen. Es könnte wiederkommen. Überlebenmüssen. Nur das. Ohne Gefühl. Ohne Schlaf. Hat mich heimgesucht bis in Gläserne meines Innen. Immer und immer wieder die Scherben eines Versprechens. Faszination. Großartigkeit. Verachtung.
Er war ein großer Mann. Finster in Momenten. Leutselig ebenso.
Unauslotbar ist die Liebe oder nicht.
Was sollte ich mit Übergangsmännern.
So wichtig machte er mich. Unaufhörliches Gespräch. Sommersommer. Wintersommer. Alles schien er zu wissen.
Damals hatte er es noch nicht nötig aufzutrumpfen. Fremde mochten ihn. Es gelang ihm mit jedem eine kleine Geselligkeit.
Als das Kind kam, wollte er sich umbringen.
Ich presste und presste, aber es kam nicht. Misstrauisch schon damals. Die da draußen.
Mais. Linda. Desafinado.
Ich verstehe sie nicht. Aber ich mochte sie. Só portugueses. Immer gab es kleine Kuchen oder Früchte für das Kind.
Wochenlange Ferienfahrten durch das Land.
Vater. Mutter. Kind
Unser hübscher kleiner Indianer. Die Portugiesen lachten ihn an. Kleiner. Mein Alles. Familie.
Der Fado, sagt meine Portugiesischlehrerin ist wie eine kollektive Therapie. Wir singen zum Heulen. Wir klagen uns all unsere Depressionen aus dem Leib. Bis zum nächsten Mal.
Wenn ich mehr Musik kennte, würde ich heilen.
Ich verstand ihn nicht. Stundenlang versank er. Hörte Musik. So versuchte er sich zu wappnen. Gegen die Stimmen. Die Angst. Aber das weiß ich erst jetzt.
Eine große schleiernde Müdigkeit.
Immer hatte ich Pflichten. Gänge. Häuser.
Meine Kuhle wurde alt und überwucherte. Ich konnte meine Wiese nicht mehr finden.
Es gelang mir immer zu arbeiten. Fortan. Die Ernährerin.
Die Tage waren vorgezeichnet.
Und ich rührte mich darin.
Der Mond. Die Sonne.

Ich habe mir nicht vorstellen können, noch einmal Kraft zu haben. Hören. Neue Wörter lernen.

Sie scheinen mir was sagen zu wollen. Pessoa. Andrade.

Der Mann wusste immer alles.
Überall brachte er Schlösser an. Zweifach. Dreifach.
Er wusste, dass wir überwacht werden. Alle waren verdächtig. Er weihte den Kleinen ein. Sie waren sich einig.

Wie war das in einem Schulhaus. Ich lebte in einem Schulhaus. Unser Zuhause war ein Schulhaus. Mein Arbeitshaus. Mein Lebenshaus. TakTakTak. Jeden Schritt hörte man. Kinderstimmen in den Fugen.

Der Kleine braucht noch einen Bruder, sagte der Mann. Hastig heirateten wir.
Stein für Stein. Die Ordnung. Manchmal lachte ich trotzdem.

Dann nach Norden. Nordferien. Jokkmokk. Wo die Samen sangen.
Mit dem Baby im Wohnwagen.
Wir taten so, als ob alles gut würde.
Der Himmel trotzte von Rosa.
Wir schliefen nicht. Immer weiter. Immer weiter. Jokkmokk. Joiken.
Von Lisboa nach Jokkmokk.
Immer geradeaus.
Noch waren die Ferien schön.
Der Mann konnte sich noch kümmern.
Die Achse. Licht. Luft.
Keine Menschen. Keine Kabel.
In den Ferien schienen die Verfolger Pause zu machen.
Er fühlte sich sicher.
Immer weiter. Familienglaube. Die Biologie der Hoffnung.

Nun weht der Wind die überlangen Stores ins Zimmer. Weiß streichen sie über den Boden. Brautschleier. Ich kürze sie nicht.

Nun habe ich mich ins Helle verschanzt.
Ich höre die Schritte der Nachbarn.
Katzenschnurren.
Tagelang liege ich auf dem weißen Ledersofa und rühre mich nicht.
Es könnte warm werden unter mir.
Eine der fernen Freundinnen hat mir eine Decke geschenkt. Olivgrün. Sterne. Weiche Wolle. Leicht.

Der Mann steht draußen.
Aufgedunsen von Wahnsinn.
Er bricht sich das Bein, um sich zu rächen.
Ich zahle.

Es gibt einen zweiten eleganten Wohnzimmertisch nur für die Rechnungen, die sich dort stapeln. Die zurückgehaltenen Tränen verstopfen mein Sehvermögen. Ich zahle blind.

Als wenn ich mich mit Licht überschwemmte. Leuchtend gelbe Luft.
Aber etwas in mir lässt kein Licht ein. Es sind Stellen wie starr. Inoperable Lebenssteine, die sich da abgelagert haben. Tückisch ist, wenn ich sie kaum spüre, aber wie bewegungslos verharre.
Sofa. Vorhang. Tief unten der Mann.
Wenn ich mich wieder rühren kann, fliegen die Lichtvögel ein. Sie rauschen durch die weiß schleiernden viel zu langen Stores und tragen mich hinaus.
Da steht kein Mann mehr. Die Luft ist noch schwer. Ein jahrtausendealter ehemaliger Friedhof ist die Wiese vor meinem Haus. Tausende katholisch begrabener Leichen.

Aber jetzt ist es so vornehm still dort. Ein Kunstkloster.
Zuweilen nur Schützenvereine, die einen der Ihren beerdigen.
Ich fürchte sie kaum. Keiner kennt mich.
Nachmittags, sehr selten, schleiche ich mich hinaus und gehe in meinen Sprachkurs. Ich nehme ein paar Wörter mit und setze sie vor den Fernseher.

é sempre no meu peito aquela garra

Sie klingen. Vielleicht wird ein Wald daraus.
Ich gehe durch meinen Wörterwald mit seinen schlanken hochaufragenden Stämmen. Unter ihren wärmenden Sonnenhäuptern erkenne ich sie und sammle.

é sempre no meu tédio aquâle aceno

Auch wenn ich welche verliere. Mein Gedächtnis ist gepunktet von ihnen.

meu peito meu tédio

Die versteinerten Stellen werden angeleuchtet.

Und doch scheint der Mann noch in der fast ausgeräumten Abstellkammer. Ich ahne, dass er dennoch da ist. Wenn auch nur im Traum. Er spricht nicht und tut nichts, aber ich weiß, wenn ich ein Lebenszeichen von mir gebe, würde er zuviel wissen können und seine bösen Insekten aus den Dosen holen.
Er tut wie freundlich. Vielleicht glaubt er es sogar. Aber er durchschaut sich. Er hält mich schuldig.
Wenn ich wach werde, sind die Steine in den Unterleib gerutscht. Ich staune, dass er noch immer da ist.
Einen weißen Tee mit wilden Blüten brühe ich mir und reinige meine Gedanken, bis sie duften.

é sempre é sempre

Schutz- und Trutzworte.
Der leuchtenden Vögel nehmen sie auf und legen sie vor Fenster und Türen. Die schwere Klosterluft lächelt.

Irgendwann werden hier kleine heitere Wesen springen. Der zweite Sohn bleibt gesund.
Ich bin stolz. Als ob das Leben mein Werk wäre. Er wird eine sonnige Frau heimbringen und Ja sagen.
Ich stehe am Herd und freue mich auf die Besuchenden.
Kleine Lichtzauber in den Fugen.

é sempre é sempre

Tagesgedichte. Jahresgedichte.
Erst jetzt werden sie meins.
Vielleicht gedeiht was in den Lichtecken.
Mein Mund übt.
Leitmotivisch pulst mein Herz.

Wie ist das, wiederauferstehen?

é sempre no meu peito aquela garra
é sempre no meu tédio aquêle aceno
é sempre no meu sono aquela guerra

Warum hat er dem Sohn seinen Wahnsinn vererbt? Als ob er es mit eingesogen hätte.
Ich habe ihn doch bewahren wollen. Kleiner Indianer.
Immer wieder. Die Vaterwut. Die Mutterwelt.
Die Kinder an meinem Herzen. Kein Schlaf. Keine Ruhe.
Ewig in meinen Mauern die Sorge.
Jetzt ist er doch sicher. Eingesperrt. Angebunden. Er tobt, weil er nicht frei sein darf. Sie verfolgen auch ihn immer wieder. Die weißen Überwächter.
Ich habe ihn aufwachsen sehen. Bücher. Gitarre. Geist. Sogar mein Lachen habe ihm geschenkt.
Die Finsternis hat ihn eingeholt. Sohn seines Vaters. Vater meines Sohnes.

Sempre no meu amor a noite rompe
Sempre dentro de min meu inimigo
È sempre no meu sempre a mesma ausência

Sie schleifen den Granit muschelglänzend. Die Klosterkünstler. Wenn ich mich bewege, kann ich ihr Schaffen sehen. Alles begrüßt mich, wenn sie da sind.
Jetzt wohne ich in ordentlichem Backstein. Belle Ètage. So still zuweilen, dass ich den Vogel atmen höre.

Anfangs bemerkte ich gar nicht, dass er da war. Es erschien mir alles so luftig, fast leicht. Und ich mag keine Haustiere. Sie machen mich niesen.
Ich merke schon, dass es mich kitzelt. In meinen Blicken scheint was zu schmunzeln, auch wenn sie tropfen.
Er spricht nicht, aber verbreitet allmählich sein leuchtendes Gelb. Selbst dort, wo die alten Aktenkisten stehen. Ich weiß, dass das alles wegzuräumen ist. Weil der Vogel doch Platz braucht.
Aber ich wusste zunächst nicht, dass es deswegen war. Ich dachte in Pflicht und war reinlich. Das vergangene Finster sollte hier raus.

Langsam, ganz langsam beginne ich mit meinem Werk.
Sehr langsam. Und der Vogel hockt da und auf einmal fällt mir auf, dass er da ist.
Zunächst war es nur wie ein Atmen. Manchmal erschien er mir im Traum. Es war nur sein Helles, noch nicht seine Gestalt. Er fächelt mir zu. Das beruhigt.

o céu era verde sôbre o gramado
a água era dourado sob as pontes

Ja, damals gab Gärten und Vormittage.
Tage voller Vormittage.
Was mich erwartet: mein Wald, mein Licht.
Das Jetzt im Innen.
Niemals wollte ich in diese Busse, in diese Gänge.
Dennoch die Kinder.
Auch sie darin gefangen.

Aber jetzt ist er doch sicher. Sie haben ihn vor sich selbst sicher gemacht. Sein Zorn ist ihm gerecht. Er will in seinem Wahnsinn geliebt werden.

Sein Vater verfällt. Noch lauert er. Aber ich lasse ihn nicht ein. Vielleicht werde ich einmal seine Liebe vergessen haben. Und das Haus mit den vielen Schlössern. Das Fahren nach Süden. Das Fahren nach Norden. Der TagfürTagRhythmus der Herzen.

Allt bli ordner sig.
Alles wird sich richten. Ich werde die Wohnung aufgeräumt haben, die Lasten heruntergeschleppt und entsorgt.

Er hat sein Warten aufgegeben.
Ich zahle alles, sehe ihn aber nicht mehr. Allen Verstand, allen Mut, Strategie, Raffinesse habe ich gebraucht, um loszukommen.
Manchmal liege ich tagelang da, bis es zu staunen beginnt. Dass das wieder möglich sein würde.

Há alma no honem?
Es quem pôs na alma
Algo que a destrói?

Noch lerne ich keine Grammatik und vergesse die Wörter wieder, die ich nur ahne. Aber als ob ich die antwortlosen Fragen verstünde. Traurigkeit, die sich selbst heilt.

Zuerst wollte ich den Vogel verscheuchen. Aber er war zu groß. Er passt nicht mehr durch die Fenster. Ich will ja nicht, dass er sich einzwängt.

Wenn mein gesunder Sohn kommt, merkt er gleich die Veränderung. Hier ist Heimat, sagt er. Und das gurrende Lachen seiner zukünftigen Frau hüpft über den Wohnzimmertisch und über die Papierstapel, als wenn sie nicht wären. Immer scheint sie zuversichtlich. Dass es das gibt.

Er schaut mich an. Von innen. Ich höre ihn, als ob er sänge. Unsagbar. Feuer. Dank. Das ungewiss verlierbar Lebendige. Er singt aus mir heraus. Die eisgrauen großen Seen des Nordens. Mein lautloses Einödsingen. Er erhebt sich und schüttet sein Gelb aus in mir. Ich fühle mich pulsen.

Lang bin ich gegangen, habe mich bis dahin hindurchgezwängt.
Was werde ich ernten im Winter?
Ich kann seine Antwort nicht übersetzen.
Es ist nur ein zartes Tremolo.

 

© PaulaC.Georges