Temporär
Das Klo ist jetzt höher als früher, den Deckel kann man nicht mehr herunterklappen wegen des Einsatzes.
Tapfere Gazelle betrachtet sich im Spiegel.
Schau dich im Spiegel an und bejahe was du da siehst, ohne dich darum zu bekümmern, ob es das ist, was du sehen möchtest.
Wenn sie lange genug hineinschaute, hatte sie den Eindruck, als ob sich die rechte Gesichtshälfte wieder liftete.
Schiefmund! sagt Leuchtendes Auge zu ihr.
Ja, jetzt hast du eine Mama Schiefmund, sagt sie.
Du bekommst aber auch alles, Mama, sagt die Achtjährige. Erst Brustkebs, dann Knochenbrüche, jetzt die Gesichtslähmung.
Nicht alles, widerspricht sie.
Sie geht hinter dem Kind her in die Küche und versucht, sich schwarzen Tee einzuschenken.
Es ist ein Balanceakt. Der Arm schmerzt und die Halsmanschette klemmt, wenn sie sich umdrehen will.
Mama, sagt die Tochter mit den leuchtend blauen Augen. Du mußt mehr essen! Sieh’ mal, wie dünn dein Arm nur noch ist. Sie legt das Gesicht auf den Arm.
Ach was, das ist nur wegen des Gummistrumpfes.
Zieh’ ihn doch aus. Das Kind streicht ihr über die Handknöchel.
Nein, das geht nicht, Schatz, wegen des Lymphödems, du weißt doch.
Ich sag’s ja, sagt Leuchtendes Auge, du bekommst alles, was es gibt.
Ach komm, laß’ das, ich mag das nicht.
Zur Disziplin der Entsagung gehört es deshalb, die Sanftheit und Verwundbarkeit zu steigern, damit man weich und offen bleibt und die zarte Traurigkeit des Herzens nicht verlorengeht.
Der Wellensittich pickt auf sein Spiegelbild.
Armer Pauli, sagt Mama Schiefmund.
Kaufen wir ihm noch einen dazu? bittet die Kleine.
Nein, die Wohnung ist zu klein.
Leuchtendes Auge kriecht in die Kammer, die so niedrig ist, daß man nicht darin stehen kann.
Du?
Hhm?
Kommt Albert heute?
Sie versucht sich ein Barthaar auszureißen.
Ich weiß es nicht.
Sie betrachtet den buntbemalten Zettel auf dem Tisch: Guten Morgen Liebste.
Wann er wohl wiederkommt?
Albert ist ein Sapßvogel, nicht wahr Mama?
Ja, da hast du recht.
Um ein guter Krieger zu sein, muß man dieses traurige zarte Herz empfinden.
Er kann sich jetzt nicht mehr auf sie legen wegen der Knochenbruchgefahr. Manchmal gelingt es ihnen, sich von der Seite zu lieben.
Wo ist denn dein Hintern? hatte Albert gefragt.
Weg, hatte sie gesagt. Einfach nicht mehr vorhanden.
Vorsichtig steht sie auf und holt aus dem Regal ein paar blaue Schuhe. Gute Schuhe. Es lohnt sich, gute Schuhe zu kaufen. Sie hat blaue Schuhe, schwarze Schuhe, braune Schuhe. Schuhe mit Schnüren und Schuhe mit offenem Zehenraum. Ich liebe die Vielfalt, sagt sie, wenn jemand sich über ihre zahlreichen Schuhe wundert. Aber man muß sie pflegen.
Sie holt Lederfett und macht sich an die Arbeit.
Das kann sie noch gut. Das geht im Sitzen. Die Schuhe sind leicht und elegant.
Ich muß Kleider haben, die mehr auftragen, denkt sie.
Mama?
Ja?
Warum dürfen wir nicht in den Garten?
Die Vermieter wollen es nicht.
Warum nicht?
Wir könnten etwas kaputt machen.
Leuchtendes Auge lacht. Du doch nicht, Mama. Das wär’ doch echt eine Leistung!
Um ein guter Krieger zu sein, muß man dieses traurige zarte Herz empfinden.
Schling’ nicht so, sagt sie beim Mittagessen.
Doch!
Nein!
Doch!
Warum bist du so pampig?
Ich habe Hunger.
Sie richtet sich auf und holt mit der Hand aus. Einer langen knochigen Hand. Wie ein Spatenblatt.
Sie läßt sie wieder sinken.
Die Kleine schaukelt mit dem Stuhl.
Mir ist langweilig.
Daran ist noch keiner gestorben.
Warum gehst du nicht mit mir schwimmen?
Das weißt du doch.
Wann holt uns einer ab?
Weiß ich nicht.
Blöd, daß du kein Auto mehr fahren kannst.
Hör’ jetzt auf damit.
Stets liebevoll und großzügig, ohne Ansporn, nur noch ihre Unergründlichkeit, die aus sich selbst heraus besteht.
Morgen kommt Susi. Sie hat dir, neue Hippos gekauft.
Ah! Toll!
Leuchtendes Auge holt die Kiste mit den winzigen bunten Plastikfigürchen. Ich habe jetzt schon fünfundzwanzig, Mama!
Hhm!
Das Kind stellt die Flußpferdchen der Reihe nach vor sich hin.
Weißt du, Mama, der Schulhippo ist jetzt sehr krank.
Ja?
Wahrscheinlich muß er sterben.
So?
Na ja. Knochentumore.
Ach.
Leuchtendes Auge schmeißt den Schulhippo um.
Jetzt ist er tot.
Und nun?
Wird er beerdigt, ist doch klar.
Sie holt einen Blumentopf. Kann ich den nehmen, Mama, die Feuerbohne darin wird doch eh’ nichts mehr?
Na gut.
Jetzt müssen wir weinen.
Ja?
Guck mal, der Schulhippo wird beerdigt.
Sie stopft ihn in die Blumenerde.
Ach so.
Du weinst ja gar nicht.
Doch. Siehst du’s nicht?
Ach ja, Mama Triefauge, du mußt ja jetzt immer weinen auf dem rechten Auge.
Ja, so ist das.
Geht das wieder weg?
Ich glaube schon.
Wie lange dauert das?
Ich weiß es nicht.
Mama, mir ist langweilig.
Ich laß’ mir das nicht mehr bieten, denkt sie. Wenn er nicht den Käse auf den Tisch stellt, dann soll er es halt bleiben lassen. Guten Morgen Liebste. Und dann dieses Theater. Ich wäre nicht gut drauf. ER war nicht gut drauf. Daß sie immer alles zurück geben müssen. Soll doch mal in den Spiegel schauen.
Die Frau, die den Männern Paroli bietet, hatte eine Freundin zu ihr gesagt. Richtig lebenstüchtig.
Aber was nützt es mir, hätte sie fast geantwortet.
Mama, komm’ sing’ mit mir! Und dann kriechen wir ins Wigwam.
Okay.
Komm’ lieber Mai und mache die Bäume wieder grün …
Kommst du mit mir in die Höhle?
Ja.
Sie geht langsam ins Schlafzimmer und läßt sich auf die Matratze sinken.
Ah!
Leuchtendes Auge setzt sich neben sie und wirft eine Decke über beide.
Mama?
Hhm?
Wie war noch mal der Indiandername, den dir Albert gegeben hat?
Tapfere Gazelle.
Ach ja. Das ist gut.
Schweigen.
Tapfere Gazelle?
Ja, Leuchtendes Auge?
Atmen.
Siehst du noch was?
Kaum.
Sie kichern.