Seite wählen

Abschied

 

Da  war eine Königin.

Ihre Arme legten sich über die Gipfel,

Nebel um ihre knöchernen Wangen.

Und sie kamen, um ihrem letzten Atmen

zu dienen.

Ich werde frei sein, dachte ihre Schwester,

wenn alles vorüber ist, und

sie schämte sich nicht.

Ich werde frei sein und fliegen können, dachte

die Schwester der sterbenden Königin,

der sie Halt gab.

Ich werde fliegen und fliegen, als ob das Leben

ewig –

Die Königin öffnete die Augen und

versuchte zu lächeln.

Die Vögel erschraken bei ihrem Anblick.

Ihr Lächeln war fleischlos geworden.

Ihre langen Knochen lagen über den Gipfeln

und zitterten.

Sie gaben ihr Tücher,

um sie zu wärmen

und weil sie wußten,

daß sie schön gewesen war.

Ihr Geliebter stand dünn an ihren

brustlosen Leib gelehnt

und weinte.

Er weint, damit wir sehen, wie er weint,

dachte die Schwester der Königin

und zürnte.

So oft hat er uns mit ihr allein gelassen.

Sie mit sich alleingelassen.

Prinzengesicht. Clownsmann.

Der Geliebte der sterbenden Königin

versuchte Lichter anzuzünden,

doch der Nebel schluckte sie alle.

Da flog das Kind der Königin hoch

zu den Gipfeln, wo die Mutter

lag, und legte ihr einen

Stein auf die Brust.

Bleibst du da liegen? fragte das Kind.

Der Stein ist für dich.

Er ist mein schönster.

Er soll immer auf dir liegen,

und oft werde ich hierhoch

zu dir wandern und

dir von meinen

Freundinnen erzählen.

Und wieder versuchte die Königin zu

lächeln, und abermals kreischten die

Vögel auf, die es gewagt hatten,

sich ihr zu nähern.

Nein, sagte die Mutter zu ihrem Kind,

ich werde Wind sein und Weh,

und ich werde dort sein,

wo du mich suchst.

Enttäuscht wandte sich das Kind ab

und wartete.

So lange hatten sie alle gewartet.

Bis der Fels ihre Knochen um-

schließen würde.

Bis die dünne Luft hier oben

ihr Atmen auszehrte.

Und das unablässige Licht

hatte ihre Lippen gebleicht.

Und sie hatte ihre Hand gehoben,

um die Vögel in die Flucht zu

schlagen.

Und sie hatte begonnen, gegen das beginnende

Vakuum zu schreien.

Nur wenn das Kind kam,

wurde sie still.

Sie zeigte ihm Felsen,

die wie Gesichter aussahen,

und Flüsse,

die nach Basilikum rochen.

Carina, sagte sie zu dem Kind

und lernte es sprechen.

Aber dann warteten sie, auch das Kind,

daß es endlich zuende ginge.

Doch die Königin erlöste sich nicht.

Noch nicht.

Ihr wartet, warf sie ihnen vor

und schimpfte.

Ich werde nicht ruhen,

drohte sie.

Ich werde nichts loslassen,

was ich noch halten kann.

Und sie hielten sie,

so gut sie konnten,

und flüsterten böse.

Ich höre euch,

sagte die Königin.

Was wollt ihr, Brusthabenden,

Atemhaltenden?

Ihr, die ihr Kinder haben werdet

und Gedichte.

Und sie trugen sie an die Küste,

daß sie noch einmal das

Meer sehen möge.

Aber die Königin wurde länger und länger,

und viele genügten nicht mehr,

sie zu tragen.

Da sagte sie: Danke! Und

hielt sie fest,

bis ihre Herzen verklumpten

vor Kraft.

Einigen gelang es noch,

sie auf die Gipfel zu tragen.

Und da wurde sie leichter.

Dort wo die Luft wenig wurde,

wurde sie groß und leicht.

Aber die Felsen stachen

ihr in die Achseln.

Da drehten sie sie um.

Eisstückchen legten sich

an ihre Brauen,

und ihre Därme leerten sich Stück für Stück.

Der Geliebte hielt ihre Füße

und sang.

Wie er sich aufspielt,

dachte die Schwester wieder,

versuchte aber milde zu sein.

Plötzlich sackten die Nebel ins Tal.

Und die Lichter flackerten,

gingen aber nicht aus.

Es gelingt ihr,

sagte der Geliebte und rief:

Oh, wie es ihr gelingt.

Da legten sich alle an die Rücken

der Berge, die nun die

lange still werdende Königin

trugen, und atmeten

ihre Schrecknisse ein und

sangen sie aus.

Die Nebel stiegen wieder

von den feucht werdenden Gesichtern.

Mama, rief das Kind,

aber die Königin regte sich nicht mehr.

Da wurde das Kind wie fröhlich,

begann Lichter anzuzünden,

die flackerten und

schließlich nach den

Füßen der Könign leckten.

Und die Schwester dachte,

ich will nicht weinen wie der Geliebte

und hielt ihre Hände fest,

während die Knochen der Königin

im Feuer knisterten und

ihre Häute sich papiernen

schwärzten und

zusammenfielen.

Das Gesicht hielt sich am längsten.

Es war dem Horizont zugekehrt

und bildete sich darin ab.

Die Königin versucht wieder zu lächeln,

sagten die Leute,

die am Fuße der Berge wohnten,

wenn das Wetter durchsichtig wurde

wie der Leib

einer fast Gestorbenen.