Wenn ich über eine Grenze gehe
I.
Wenn ich über eine Grenze gehe,
merke ich es vielleicht gar nicht.
Da scheint’s nicht anders
Ich könnte auch sagen Ichliebedich einem,
der gar nichts fühlt
und fühlen will
oder Unsinn,
wo eine andere lauter Sinn vermutet.
II.
Wenn ich über eine Grenze gehe,
fühle ich mich fremd,
aber nicht gleich,
Menschen sehen doch ähnlich aus,
sie scheinen ähnlich zu sein
haben Angst, wollen lachen,
weinen, rivalisieren.
Wenn ich über eine Grenze gehe,
scheint alles wie immer
Aber einer, der sich abwendet,
unmerklich zunächst,
lässt mich wissen,
dass ich nicht weiter kann
Ich halte an und
schaue mich um
Ich habe eine Grenze überschritten
und ich wollte es nicht wissen
Besser ist:
Ich gehe über eine Grenze,
ich klettere über eine Mauer,
einen Zaun
oder noch besser:
ich fliege
Aber auch Fliegen ist nicht grenzenlos
ich habe Angst
andere machen Angst
Ich muss mich ausziehen
Grenzkontrollen
mich nackt werden lassen
Wenn ich fliegen will,
kann ich nicht einfach abheben
Ich muss mich ausweisen
immer wieder beweisen,
dass ich nicht illegal bin
kein Mensch, kein Mensch
Ich bin eine Personennummer,
eine ID-Kartennummer
ohne PIN kann ich nichts
Ich kann Grenzen überschreiten,
wenn ich das nötige Klein- und
Großgeld dazu habe
Ich tue dann so,
als riskierte ich etwas,
aber mein Geld macht mich sicher
Ich bin gegen alles Mögliche versichert
Ich reise, also bin ich
Aber ich verliere mich auch beim Reisen
Immer wieder neue Grenzen
Aber wo verwurzele ich mich
Immer wieder
Wenn ich eine Grenze überschreite,
sehe ich oft nicht,
dass da eine war
Einer lacht nicht,
wenn ich lache
Einer sieht mich nicht an,
wenn ich ihn ansehe
Keiner versteht mich
Eine Sprache ist eine Grenze.
Zuerst kann ich Gedichte schreiben
in einer neuen Sprache
da nähere ich mich langsam,
im eigenen Rhythmus
dem neuen Sound,
dem neuen Sprachgrenzgefühl
Aber ich kann nicht sprechen.
Die Grenze verläuft durch
meine Zunge,
meinen Kehlkopf,
meinen Gaumen,
ja selbst meine Lippen
formen sich nicht so
wie sie sollen
Wenn ich über eine Grenze geflogen bin,
bin ich noch lange nicht
angekommen
III.
Wenn ich über eine Grenze gehe,
denke ich womöglich Nichtschonwieder
Immer muss ich meine Möglichkeiten erweitern,
immer soll ich noch, noch geschickter, noch gebildeter werden,
vielleicht auch gelassener,
wenn ich eigentlich explodieren will –
also immer wieder soll ich mein Ich-Haus
aufmachen und ausbauen,
renovieren, restaurieren –
irgendwann aber ist die Grenze der Tod.
Wenn ich über ein Grenze in den Tod gehen,
weiß ich nicht,
wer oder ob jemand bei mir sein wird
Es wird ungemütlich werden,
Atemnot vielleicht, Krämpfe,
es könnte auch sein,
dass ich einfach entschlafe
also meinen eigenen Tod verschlafe
oder bekommt das Unterbewusste mit,
wenn und wie ich sterbe?
Die Grenze ist ärgerlich,
und weil ich mich damit abfinden muss,
suche ich Schönrednerliteratur darüber:
Gehen können,
weggehen können,
aufgehen in Allem
loslassen, das Ego u.s.w.
den Freund,
das Kind,
das Lachen
und Weinen
den Ehrgeiz,
einen anständigen Tod zu sterben z.B.
Wenn ich über eine Grenze gehe,
komme ich nirgends an,
Nirvana heißt das
Nirvana ist wo alles Nichts ist
Es gibt keine Künstler
und keine Grenzüberschreiter mehr,
keine Magierinnen
und weisen Führerinnen
Nur die Parallele von Alles
die Parallele unseres Alls
die Nichtsynkope
– ein Rhythmus ohne Takt,
ein Lied ohne Ton
kein Wort,
keine Stimme
Und Gott ist natürlich auch Nichts
Wo kämen wir dahin?
© PCG 2009