der Engel, der nicht lächeln muss
anmutige Anarchie in Bildern
Erstes Bild
Flugversuche
Kostüm: weißes, dreiviertellanges kimonoartiges Gewand, dreiviertellange Rüschenunterhose, barfuß, weißes Gesicht, kleiner roter Mund
Ein Stuhl. Eine Aktentasche. Ein Teddybär
Engel fliegend
fühlt sich aber immer gestört von anderen
Fliegt immer weiter, atmet
Wird gestört.
Verbeugt sich.
Dauernicken.
Zähneblecken.
Fliegt hastiger an Wänden entlang
Erschrickt. Grüßt.
Lächelt hechelnd
Fliegt schnell auf die Bühne.
Flugversuch auf dem Stuhl, Arme ausbreitend
Störung
Stellt sich flugs hinter den Stuhl, wie einen Vortrag haltend
„gewinnend“ lächelnd
Setzt sich auf den Stuhl. Wie unauffälliger
Flugversuch sitzend mit den Armen
Wird in eine Besprechung verwickelt
Nickt. Schlägt die Beine übereinander.
Lächelt.
Schließlich steht er auf, setzt den Stuhl wie einen Rucksack auf und geht ab.
Zweites Bild
Jobwunder
Engel und Erzählerin sowie alle anderen Figuren werden von einer Darstellerin durch unterschiedliche Haltungen kenntlich gemacht.
Erzählerin:
Ein Jobwunder! Imagine! All the people!
Engel schwebt tänzelnd zum Publikum
Erzählerin:
Alle fliegen hoch. Pläne usw. !
Engel sich plötzlich abrupt hinstellend, sein Hemd aufhaltend in Sterntalerpose
Erzählerin:
THE BIG ARTIST IS WAITUNG YOU INSIDE
Engel weiterhin in Sterntalerpose verharrend
Erzählerin:
So long, anymore
Engel nimmt einen Teddy, der einen Hut aufhat und lüftet ihn
Erzählerin:
Ich darf alles, habe ich neulich eine sagen hören.
Sie war noch jung.
Erzählerin nimmt Teddy und setzt ihn links vorne auf die Bühne.
Engel kämpft. Unsichtbarer Gegner.
Erzählerin, beobachtet ihn.
Drittes Bild
Büro
Stimme Geschäftsleitung:
Herr Engel bitte ins Büro! Herr Engel bitte umgehend ins Büro!!
Engel zuckt zusammen. Rennt durchs Publikum. Will sich an den Wänden entlang verstecken. Schleicht, sich immer wieder umsehend an den Wänden entlang. Nimmt plötzlich eine Aktentasche und geht betont geschäftig durch den Publikumsmittegang auf die Bühne. Verschwindet.
Dunkel
Wiederholtes Flüstern im Dunkeln:
Die Mächtigen machen immer so viel. Die Mächtigen machen immer so viel.
Viertes Bild
Verwandlung der Aktentasche
Licht geht an.
Engel steht am Bühnenrand mit Aktentasche. Wartet. Plötzlich sackt er zusammen. Über der Aktentasche.
Erzählerin:
Der Ansturm des Nichtigen!
Engel wird hinweggefegt. Er rollt und purzelt über die Bühne.
Plötzlich steht er auf. Entschlossen. Geht zur Aktentasche, hält sie über den Kopf und verkündet dem Publikum:
Das ist keine Aktentasche,
das ist ein – Schirm !
Er macht die Aktentasche auf, ein Flut beschriebener Papiere, Stifte, Formulare, ausgefüllt und unausgefüllte kippen über seinen Körper.
Engel, schreiend:
Jetzt hab‘ ich mich ins Trockene gebracht!
Fünftes Bild
Straßenmusikübersetzung
Engel lautlos mit Stuhl als Luftgitarre singend und spielend, den Aktentaschen-Schirm umgekehrt als Bettelgefäß vor sich liegend
Erzählerin übersetzt, hin und her an der Bühnenrampe, wie dozierend, sehr prononciert:
busted flat in Baton Rouge
headin’ for the train
feelin’ nearly faded as my jeans …
Erzählerin bleibt stehn, wiederholt wie in einer hängengebliebenen Rille:
Freedom’s .. Freedom’s …Freedom’s … Freedom’s … Freedom’s …Freedom’s …
Freedom’s …
Sechstes Bild
Speaker’s Corner
Engel auf Stuhl, rechts vor dem Publikum.
Predigt, breitet Arme zum Segen aus:
Gehet hin in Liebesnester und Wolkenkuckucksheime.
Verschwindet nicht in Nichts.
Vielleicht werdet ihr doch noch gebraucht.
Vermehret die Fröhlichen
Oh du!
Siebtes Bild
Chef, rittlings
Chef rittlings auf dem Stuhl zum Publikum:
Herr Engel, habe ich ihm gesagt, wie fühlen Sie sich und so weiter. Ich nehme Sie als
weniger zufrieden wahr und so weiter. Sie sind sensibel. Entladen Sie sich doch einmal. Glauben Sie an Gott. Machen Sie Ayurveda. Bitte. Nächster Besprechungstermin am Montag! steht auf Wie schön, dass Sie weinen.
Achtes Bild
Sehen, Hören, Gehen
Engel (rechter vorderer Bühnenrand) hält sich die Ohren zu
Erzählerin, mitleidig: Unerhört …
Wartet.
Erzählerin: Haben Sie ihn gesehen? Er will gesehen werden.
Engel kauert sich hin und verdeckt die Augen.
Erzählerin: Er könnte sich sichtbarer machen …
Engel legt sich gekrümmt auf den Boden.
Erzählerin: Er hat seine PIN vergessen. Seine LebensPIN… Er kommt irgendwie nicht mehr an sein Leben dran …hilfesuchend Aber es muss doch etwas geben …
Engel steht auf: Ja, ja doch … was ich an mir schätze? Ähm: Ich kann so gut gehen.
Er geht.
Neuntes Bild
Aktennotiz
Erzählerin liest:
Akte „Engel“. Herr Engel gibt zu Protokoll: Etwas vergesse man immer. Man wisse noch nicht, was man vergessen hat. Aber man werde es wissen, wenn die Katastrophe eingetreten ist. Ach so. Das. Irgendetwas mache man immer falsch. Auch wenn man nichts davon wisse. Aber ein anderer bekomme Kenntnis davon. Ein anderer, der einem aus irgendeinem Grunde etwas zu sagen hat, wird es entdecken und es wird schwerwiegend sein, obwohl man ja keine Ahnung gehabt habe, aber das war schon der Fehler. Man müsse immer möglich Fehlerhaftes erahnen, um präventiv vorgehen zu können. Irgendeinen Fehler, von dem man nicht wusste, dass man ihn begehen könne. Dieser der die das Andere wird dich kalt ansehen und wie selbstverständlich davon ausgehen, dass du diesen schwerwiegenden Fehler zweifelsfrei dir hast zuschulden kommen lassen. Und es werde schwer sein, den Ingrimm dieses Fehlerentdeckers zu berücksichtigen. Man glaube an den GAU. Ab einer gewissen Gehaltsstufe halte man den GAU für eine sportliche Herausforderung. Wieviel GAUs einer aushalten kann, gelte als ein Qualitätsmerkmal. Du wirst den Fehler versuchen wiedergutzumachen. Aber der GAU-Aushalter – wenn alles wieder wie gewünscht gerichtet ist – scheint darin gar nichts Besonderes zu finden. Die Fehlerbeseitigung ist nicht erwähnenswert. Der Fehler an sich ist das Besondere. Und da wundert man sich, dass man sich wünscht, dass es einen gibt, der einem alles verzeiht und siehst, wie du lebst. Herr Engel schreit: Sag‘ bloß nicht, dass es den gibt.
Hier wurde das Protokoll für einige Tage unterbrochen.
Fortsetzung:
Herr Engel verneint die Frage: Nein, er gehöre keiner religiösen Gemeinschaft an, hätte auch nicht vor, einer solchen beizutreten.
Zehntes Bild
Anbetung des großen FBNdV
Engel, knieend vor dem Publikum:
Oh, du Großer Fachbereich des Notwendig zu Verwaltenden!
Dein bin ich auf Leben und bis zur Gehaltsbemessunggrenze.
Dein ist mein ganzes Herz.
Ich finde dich sinnvoll und vernünftig und bewundere rückhaltlos deinen ausdauernden Fleiß.
Der du die Welt gestaltest und verwaltest. Immerdar.
Elftes Bild
Eine besondere Aufgabe
Erzählerin, schmunzelnd:
Man hat ihm eine Funktionsstelle angeboten: LÄCHELAUTOMAT.
Eine besondere Aufgabe. Auch um das Gehirn umzustrukturieren.
Er macht es gewissenhaft und umfänglich.
Nachmittags hechelt er manchmal.
HECHELND LÄCHELND
Zwölftes Bild
Service – Übungen
Engel joggend und marschierend, Gymnastikübungen, dazwischen lächelnd in diversen Varianten:
Man beachte allerdings, dass auch FBNzVs beseelt sind. So kann es vorkommen, dass sie plötzlich und unvermutet lächeln. Manchmal meditieren sie sogar.
Lächelt in diversen Varianten.
SEELENABGLEICHSVERFAHRENSWÄCHTER
Nickt. Ohne Jux.
Dreizehntes Bild
Buddha hat gesagt
Engel im buddhistischen Mediationssitz frontal vor dem Publikum:
Ich sehe was, was du nicht siehst.
Ich habe jahrhundertelang geübt, um Bruchteile einer Sekunde das Nichts zu sehen.
Es ist unglaublich.
Ich will nicht mehr geliebt werden.
Ich muss nicht mehr geliebt werden in diesen ViertelvorNichtsSekunden des Nichts.
Ich bin frei von mir selbst.
Vierzehntes Bild
Die Chinesen überholen uns
Engel, soldatischer Gleichschritt, kloniert lächelnd.
Durch Publikumsraum und zurück:
Die Chinesen überholen uns!
Fünfzehntes Bild
Tango. Pas de seul.
Engel zusammenfallend.
Langsam summend wieder sich aufrichtend. Tangotanzend summend sich umarmend.
Sechzehntes Bild
Liebesbrief
Engel, wie sich wiegend in umgekehrten Stuhl, liest einen Brief:
Liebe unbekannte Geliebte,
ich habe mich in dich verliebt, weil du traurig bist. Und weil ich traurig bin. Ich sehe deine Traurigkeit, aber auch deinen Schalk. Es sind eins, zwei, drei – verschiedene Schalke, die ich erkenne. Du scherzt mit dem Tod. Ich erkenne das, weil ich ein Schalkweiser bin. Das habe ich geübt, das Schalk-Erkennen. Du lachst? Das ist gut. Manchmal bist du so bedrückt, dass es mich bedrückt, mehr als meine eigene Last. Ich habe mich in dich verliebt, weil ich dich heiter machen will. So kann ich dich auch in mich verliebt machen. Ich sage hallo zu deiner Trauer, zu deinem Schalk. Eine Verliebtheitsbrücke schwankt natürlich immer – über furchtbare fruchtbare Abgründe wird unsere Liebe hängen und uns verbinden. Ich gehe mal voran.
Dein Engel
P.S. Manchmal bin ich nicht da. Aber manchmal scheint es auch nur so.
Lässt den Brief fallen
Siebzehntes Bild
Himmel und Hölle
Engel malt Kreidekästchen zum Hüpfspiel auf den Boden.
Er fängt an zu hüpfen.
In jedem Kästchen zeigt er eine andere Emotion. Wechsel der Stimmungen. Ein Hüpfspiel der Launen. (z.B: schluchzend, fäusteballend schnaufend, armehochreißend euphorisiert, nervös-ärgerliches nägelkauendes Hin und Her, verwirrt, fröhlich trällernd, laut lachend …). Steigende Tempi. Hüpfen und Launen wechseln immer schneller.
Schließlich legt sich der Engel auf ein Kästchendoppel, das nebeneinander gezeichnet ist.
Er liegt auf dem Rücken, Guck-in-die-Luft, überkreuzte Knie, atmet.
Achtzehntes Bild
Sabotage
Engel verstohlen an Wänden entlangschleichend. Sieht sich um. Harlekinös. Legt Finger auf den Mund. Renn und Stop. Hire and Fire. Fällt plötzlich wieder in sich zusammen.
Neunzehntes Bild
Durchsage
Lautsprecherstimme:
Achtung, eine Vermisstenmeldung! Herr Engel wird vermisst. Herr Engel ist noch rüstig, hat lockiges Haar und kann sich zur Zeit nicht orientieren. Er trägt ein weißes Gewand und lange Unterhosen mit Rüschen.
Engel tritt vor Schreck den Stuhl um, blickt sich um, richtet sich auf, nimmt schließlich den Stuhl wie ein Handtäschchen. So hüftwackelnd ab.
Zwanzigstes Bild
Höhle der Phantasie
Engel verkriecht sich mit Teddy, seinem Kompagnon unter den Stuhl.
Ab und zu schaut er unter dem Stuhl heraus und stellt fest:
Sie sind noch da.
Zieht sich wieder zurück.
Spielt mit seinen Finger. Lacht. Murmelt.
Kriecht auf allen Vieren hervor und sagt nach hinten zum Teddy:
Wir sind eingesperrt,
das macht aber nichts,
wir haben Phantasie.
Holt Teddy heraus und setzt ihn auf den Stuhl:
Und, wie fühlst du dich jetzt?
Engel zum Publikum:
Er ist durch und durch anständig.
Engel zu Teddy:
Du vermisst deine Königin?
Engel zum Publikum, erläuternd:
Die Allseitsbeliebte ist seine Königin.
Engel zu Teddy:
Kommt noch!
Nach einer Pause zu Teddy:
Nein, nein. Alles paletti. Die Kleinen sind versorgt.
Weitere Pause:
Kann ich auch mal auf den Thron?
Nimmt Teddy vom Stuhl. Setzt ihn daneben auf den Boden und sich selbst auf den Stuhl. Aufrecht. Füße auf dem Boden.
Engel zum Publikum:
Hat jemand was zu lesen?
Wenn nicht:
Dann stelle ich mir halt was vor.
[Wenn ihm jemand was bringt, liest er darin, kommentarlos]
Schließlich, seufzend zum Teddy:
Soll ich dir mal was erzählen?
Stutzt. Sieht zum Teddy herunter.
Pause.
Dann verständig:
Ach so! Du willst nur sitzen!
Sie sitzen.
Engel blickt nach Pause ins Publikum.
Schmunzelt.
Blick zurück nach vorn.
Sie sitzen.
Ende